Das Bewusstsein für die eigene Optik beginnt bei jedem wohl zu einem anderen Zeitpunkt. Spätestens jedoch ab dem Teenageralter. Leider geht es da anfangs noch weniger um die Dinge, die einem gefallen, sondern eher um jene, die einem an sich nicht gefallen, mit denen man als frischgebackener Jungerwachsener hadert. Der ultragroße Pickel am Kinn, die spröden Haare, zu dick, zu dünn, die Nase zu groß, der Hals zu kurz, die Lippen zu schmal, die Augen zu klein, die Augen zu glotzig, und, und, und….
Dennoch habe ich schon ein sehr frühes Bild vor mir, wie ich in meinem roten Wollrock und einem dunkelblauen Pulli in der Garderobe meines Kindergartens stehe. Rechts und links umgeben von Stoffsäckchen mit den Hausschuhen, fein säuberlich in halben Meter Abständen aufgehängt, und ich mittendrin mit frisch gebürstetem Haar. Jeden Sonntag Abend nämlich hatten meine Mutter und ich den gleichen Kampf auszufechten. Meine Haare waren damals ziemlich lang, und ich trug sie meistens zu zwei Zöpfen gebunden, diese Frisur war für mich Standard. Damit konnte man stundenlang schaukeln, an der Turnstange üben, fangen spielen, Schnur springen und sich hinter dem Hügel die tiefen Rattenlöcher ansehen. Allerdings hatte ich dann am Ende der Woche unzählige Knoten und Nester in meinem Haar, die meine Mutter in akribischer Kleinarbeit wieder herausbürstete.
Und so stand ich also da, als mich ein kleiner Junge ansprach, klein im Sinne von ebenso klein wie ich damals. Und ich erinnere mich noch genau, was er sagte, er sagte: „Du siehst schön aus!“
Er sagte nicht ‚Du siehst lieb aus‘ oder ‚Du bist schön‘, nein er sagte ‚Du siehst schön aus‘. Und was sagte ich darauf? Ich erwiderte doch tasächlich: „Ich weiß!“ Nicht etwa ‚Oh, danke, wie, lieb‘ oder ‚Nein, nicht doch‘ oder irgendeine der Floskeln, die man als Erwachsener auf ein Kompliment dieser Art gibt, nein, ich sagte einfach ‚Ich weiß“! Ich hatte ja gestern gefühlte Stunden unter dem Folterwerkzeug meiner Mutter ertragen und unter Schmerzen diese Frisur hervorgebracht. Es war eine klare Entscheidung, im Sinne von ‚Na sicher, wie soll es auch anders sein‘? Ich trug meinen Lieblingsrock und meinen Pulli mit dem kleinen Pony vorne drauf, natürlich war man da schön! Aber gefühlt hab ich es nicht. Das kam erst einige Jahre später.
Ich ging in die zweite Klasse Volkschule und besaß damals einen orangen Pulli, aber nicht im heutigen Sinne orange, sondern eher so matschig fruchtig orange, wie angesäuertes Apfelmus. Und das schlimmste, es war ein Rolli mit einer Art Rippmuster, das man sonst nur von Unterleibchen kannte. Keine Ahnung, wie meine Mutter zu diesem Monstrum kam, vielleicht war es ein Ableger meines Bruders, der sicher extra, um dieses Ungetüm nicht mehr (er)tragen zu müssen, aus seiner Kleidung herausgewachsen war. Ich habe diesen Pulli gehasst, aber anziehen musste ich ihn dennoch hin und wieder.
In der Schule gab es einen riesigen Pausenhof, und zwischen der zweiten und dritten Unterrichtsstunde durfte man sich dort aufhalten. Wir Mädchen spielten verstecken oder Gummihüpfen, wir zankten uns oder bildeten gemeinsam Banden gegen die Buben. Und ich war verliebt. Jetzt im Nachhinein war es wohl so ein ähnliches Gefühl, damals konnte ich es natürlich nicht so benennen. Ich war also verliebt in einen Jungen, der mir schon sehr groß erschien, ich habe nur Schnappschussbilder in meinem Kopf. Er hatte kurze dunkle Haar und an diesem Tag keine Jacke an, was ich cool fand, weil sonst alle Kinder um diese Jahreszeit Jacken trugen mussten. Auch ich hätte gerne eine gehabt, damit man den orangen Pulli nicht so genau sah.
Ich tuschelte also mit meinen Freundinnen, als man beschloss, abfangen zu spielen. Und plötzlich waren alle weg, verteilt, die Gruppe hatte sich bereits gebildet, das ging damals immer sehr schnell. Da wartete ich nun, unschlüssig, und sah zu, wie alle um mich herum liefen und der große Dunkle lief auch mit. Ich sah, wie meine beste Freundin, zumindest in diesem Monat, auf ihn zuging und mit ihm sprach, dann rannte sie zu mir und meinte, dass der Junge gesagt hätte: „Die mit dem komischen Pulli soll auch mitspielen!“ Auch damals galt komisch schon als ‚komisch‘, aber mir war‘s egal. Der schöne Große wollte, dass ich mitspielte, nur das zählte. Ich war die mit dem komischen Pulli.
Und dann spielte ich mit und fühlte mich herrlich. Ich lief durch den Hof, lies mich fangen, fing die anderen, spürte, wie mein Haar beim Laufen durcheinander wirbelte, und ich fühlte mich angeschaut und ich lachte und kicherte und war außer Atem. Es war ein wunderbares Gefühl, ein intensives Bewusstsein meiner Selbst, ein gleichzeitiges Wahrnehmen der Welt und mir. Ein Gefühl von Schön, mein erstes wahrscheinlich. An den großen Dunklen habe ich keine andere Erinnerung als diese. Und den Pulli habe ich auch weiterhin gehasst.
Schön fühlt man sich wohl zu den seltsamsten Gelegenheiten. Aber komisch ist noch immer komisch!
Bookmarken & Teilen