Vor einiger Zeit teilte mir mein Bruder mit, dass er jetzt aufgehört hat, zu essen. Also nicht gänzlich. Auch nicht für immer, das soll ja relativ ungesund sein und dem Teint nicht sehr bekommen. Aber er isst halt jetzt eine Zeitlang nichts im herkömmlichen und schon gar nicht bekömmlichen Sinne. Er trinkt warmes Wasser, eventuell mit Tee verfeinert, einen Fingerhut voll Gemüsesuppe und bevor er umfällt, sagte er mir, esse er ein Stück Tomate. Ein kleines Stück. Einer kleinen Tomate.
Super, dachte ich mir, das ist eine tolle Idee. Denn der Feind jeder Diät ist wohl meist das Essen. Keine Nahrung, kein Fett, eine klare Rechnung. Das wollte ich auch, das konnte doch nicht so schwer sein. Wenn mein Bruder das schafft! Er, der mich mit Zuckerwatte, gebratenen Mandeln und Pizza durch meine Kindheit gelotst hat. Er, der mit mir rotes „Tom und Jerry“- Eis bis zum Exzess an sonnigen Samstagnachmittagen verzehrt hat, er sollte das durchhalten und ich nicht? Das wäre doch gelacht.
Gleich am nächsten Tag begann ich mit der FNM- Diät, der Friss nix mehr – Diät!
Das Aufstehen und Duschen war ein Kinderspiel, kein Gedanke ans Essen. Auf dem Weg zur Küche kam ich beim Kühlschrank vorbei. Viel Trinken, hieß es ja, da musste ein Mineralwasser her! Leider war der Kühlschrank gut befüllt. Das machte mir aber nichts aus. Ich öffnete nur kurz den Deckel der selbstgemachten Erdbeer-Topfencreme mit Schokostreusel und roch hinein. Hm, lecker! Das war wohl ein gutes Zeichen, wenn ich wollte aber nicht durfte! Das alleine verbrauchte ja sicher schon Kalorien.
Mein Weg zur Arbeit führt regelmäßig bei der Konditorei meines Vertrauens vorbei. Komplettverglast, total suggestiv und manipulativ und überhaupt gemein. Nicht nur, weil die Ofenlüftung offensichtlich direkt nach draußen gesprüht wird, direkt in meine beiden Nasenlöcher. Ich ging recht schnell vorbei, warum die Qual unnötig hinauszögern? In der Straßenbahn saß allerdings ein kleiner Bub vor mir, der jetzt, in der angehenden Faschingszeit, das einzig richtige tat, nämlich Faschingskrapfen in sich hineinzumapfen. Ich beugte mich recht weit vor. Ich wollte sehen, wie dem kleinen Balg die Marmelade übers Kinn lief, nicht nur, weil ich Marmelade sehen wollte, sondern weil ich schadenfroh war. Wenigsten bekleckern sollte er sich, wenn er schon keine Diät machte! Doch diesen Gefallen tat er mir nicht. Er beherrschte das Krapfenessen nämlich ganz vorzüglich, einfach, indem er den gesamten Krapfen in sich hineinstopfte, was ihm von seinen Freunden einen feurigen Applaus bescherte. Kinder!
Bei der Arbeit vermied ich Blickkontakt mit allen Essenden um mich herum. Beim Automaten ließ ich mir dann einen großen Häfen schwarzen Kaffe herunter. Ohne Milch, aber mit viel Bedauern. Wie es so üblich ist, wurde mir von Kaffee auf nüchternen Magen übel und ich musste etwas essen. Im Firmenkühlschrank lag eine angegammelte Gurke. Ich aß ein Stück. Jetzt war mir vom Kaffee weniger schlecht, dafür von der Gurke. Ich trank einen Pfefferminztee, das half.
Meine Kollegin Berti wunderte sich zwar, dass ich nicht zum Mittagessen mitging, ließ mich aber sonst in meinem Elend allein. Als sie zurückkam, roch sie nach Essen, sie roch nach Gebratenem und Pfeffer, nach gerösteten Kartoffeln und Zimtparfait. Ich rückte etwas näher zu ihr, plötzlich erschien sie mir wie die netteste Kollegin, die ich je hatte. In einem ihrer Mundwinkel sah ich einen hellroten Fleck. Was das wohl war? Gulasch? Pasta? Himmel, jetzt griff sie in ihre Schublade und holte eine Schokolade heraus. Oh Mann! Alleine das Knistern der Silberfolie war verführerisch. Und dann knackte es, die Schoko war ab. Berti steckte sie sich direkt in den geöffneten Mund. Derselbe Mund hatte wohl zuvor schon Unmengen Tortellini, Pizza, gebratenes Hühnchen und Karamellsauce in sich hineingetan. Als Berti meinen starren Blick wahrnahm, hielt sie mir die Tafel hin.
„Magst? Schmeckt super, mit 85 Prozent Kakaoanteil!“
Meine Hand streckte sich selbständig aus, nur mehr zehn Zentimeter! Nein, dachte ich mir, nein, das konnte nicht sein, schon am ersten Tag schlappzumachen! Ich bog ab und ergriff ein Notizbuch.
„Nein danke, ich bin allergisch gegen Schokolade!“
Das Dümmste, was ich je gesagt hatte. Und das Unrealistischste!
„Das nehm ich dir nicht ab! Bist du auf Diät? Du siehst schlecht aus!“
Ich darauf: „Nein, ich muss nur aufs Klo!“ und flüchtete.
Mittlerweile hatte ich etwa drei Liter feinstes Wasser aus Altbauleitungen getrunken, vielleicht hatte der Metallgehalt ja einen sättigenden Einfluss.
Als es Feierabend war, beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Die Straßenbahn war zu gefährlich, zu viele Leute, die tagsüber gegessen hatten, auf zu engem Raum.
Und außerdem konnte Bewegung nur gut sein. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie viele Menschen auf der Straße essen. Jeder hat irgendetwas in der Hand, einen Kaffeebecher, ein Hotdog, ein Kipferl, ein Handy, mit dem wahrscheinlich gerade chinesisches Essen bestellt wird… Es war wie ein Spießrutenlauf, nein eher ein Speisrutenlauf!
Zu Hause angekommen, fühlte ich mich wieder stabil. Jetzt wird alles gut. Sicherheitshalber schaute ich noch beim Kühlschrank vorbei, die Erdbeer-Topfencrem mit Schokostreusel war noch da, mein Mann hatte sie nicht gegessen, vielleicht auch, weil ich sie morgens hinter den Gurkengläsern versteckt hatte. Im Brotkorb war ein frisches Baguette, daneben ein Reststück Marmorkuchen. In den Kästen waren aufgereiht: Puddingpulver, Packerlsuppen, Spaghetti, Reiskracker, Chili con Carne in der Dose und Reis. Tapfer schloss ich das Türchen und setzte mich vor den Fernseher. Bald würde mein Mann nach Hause kommen und mich retten. Er könnte mich dann beispielsweise irgendwo anbinden, oder mich mit männlichen Vernunftargumenten paralysieren. Im Notfall sollte er mir halt eine scheuern, Hauptsache er hält mich vom Kühlschrank fern. Letzteres würde ihm zwar schwer fallen, aber das würde ich schon hinkriegen.
Im Fernsehen lief nur Werbung, Fresswerbung. Jemandem beim Essen zuzuschauen war fatal. Ich schaltete den Fernseher aus und saß nur ganz ruhig da. Ja, das war gut, nur Stille, ich und mein Körper, wir sind eins. Dann geschah es. Ich hörte ein genüssliches Knacken, gefolgt von einem Schmatzen und dann wieder Knacken. Meine Katze fraß ihr Trockenfutter! Und da war es vorbei.
Zuerst musste die Erdbeer-Topfencreme mit Schokostreusel dran glauben. Während ich das Baguette aufschnitt und mir ungefähr einen Kilo Thunfischaufstrich draufschmierte, schnappte ich mir die Knuspermüslitüte. Dann köpfte ich ein Bier und leerte es in einem Zug, nach vier Litern Wasser hatte ich nun anständig Durst. Das muss alles gleichzeitig geschehen sein. Mein Mann erzählte mir am nächsten Tag, dass er mich auf der Couch fand, eingebettet in Schokofolie und leere Chips-Verpackungen, mit einem etwas entrückten Gesichtsausdruck. Ich selbst konnte mich nicht mehr erinnern.
Mein Bruder hat mittlerweile zehn Kilo abgenommen, ich drei zu.
Es stimmt also: Nichts zu essen wirkt sich doch tatsächlich aufs Gewicht aus!
(Lesen Sie auch über unseren ersten Abnehmversuch: Abnehmen macht ganz schön dick.)
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Liebe Schreibselbraut,
wer jemals abzunehmen versucht hat, kann mit Dir mitfühlen. Einige Kilos abnehmen ist ja sooo einfach, sagen die Wenigen, die es geschafft haben. Aber schau sie Dir einige Monate später an. Dann ist es fast immer das vor der Diät auf die Wage gebrachte Gewicht plus, plus, plus, … womit ich nicht sagen will, dass das auch bei Deinem Bruder so sein wird, wenngleich ich es – Schande über mich – trotzdem für möglich halte, ganz einfach, weil ich da aus eigener Erfahrung sprechen kann.
Da ist es viel besser, es nur einen Tag lang zu versuchen, wie Du das jetzt so herrlich anschaulich geschildert hast, sich dann ordentlich was zu gönnen, was am nächsten Morgen zwar auf der Waage als Plus zu sehen ist, aber sobald der Heißhunger wieder verschwunden ist und man wieder normal isst, am übernächsten Morgen bei guter Verdauung durch ein automatisches Minus in gleicher Kiloanzahl auf der Skala der Waage ausgewiesen wird, was definitiv das Herz wieder höher schlagen lässt. Wieso? Naja, weil man dann dem Bruder oder wer sonst einem mit Abnahmewundern genervt hat, guten Gewissens sagen kann, dass man auch schon abgenommen hat. Von der Zunahme zwei Tage zuvor braucht man ja nichts zu sagen.
Ein guter Vorschlag für alle, die gerne genießen, wie ich denke.