Vor längerem hat sich Schreibselbraut der „Sekunde“ mit einem Blogeintrag (Plädoyer für die Sekunde) angenähert. Für das Magazin „Abenteuer Philosophie“ (www.abenteuer-philosophie.com) hat sie einen Artikel verfasst, der sich dem Moment, dem Augenblick und allem Drumherum widmet (erschienen in Ausgabe 1/2013).
Vor einiger Zeit bekam ich einen Anruf von meiner sechzehnjährigen Nichte. Sie hatte das Bedürfnis gehabt, mir mitzuteilen, dass sie gerade glücklich sei, und sie wollte diesen Moment mit mir teilen. Einen Moment, der an mir vorübergegangen wäre, unbeschaut. Ein Moment, ein Hauch, ein Atemholen, ein Augenzwinkern, eingebettet in meinen Tag voller Eindrücke. Flacher Eindrücke, die ich bereits vergessen habe. Diesen Anruf aber nicht.
Unser Zeitempfinden ist bekanntlich äußerst subjektiv. Der unendlich lange Sommertag in den Grundschulferien. Der viel zu kurze, angefüllte Arbeitstag, bis zum Bersten voll mit „Zu erledigen“- Dingen. Das nachweislich gedehnte Zeitempfinden bei Angst und Schrecken, etwa, wenn wir im Wasser um Luft ringen, der Zahnarzt seines Amtes waltet oder wir auf die alles entscheidende Diagnose warten.
Der Zeit kann man keine Vorschreibungen machen, wir können sie nicht überlisten. Wir können unsere Zelte nicht in schwarzen Löchern aufschlagen, wo keine Zeit existiert. Es ist sinnlos, sich am höchsten Punkt der Erde anzusiedeln, nur weil wir wissen, dass die Zeit umso langsamer vergeht, je weiter wir vom Erdmittelpunkt entfernt sind.
Der Nenner, über dem sich alles zusammenfassen lässt, ist: Jeder verbringt Zeit. Wir sitzen alle in diesem Zug, der unweigerlich in die gleiche Richtung steuert, unweigerlich mit der gleichen Geschwindigkeit. Die einen sitzen stumm und still da, die anderen preschen im Zeitwagon nach vorne, die anderen laufen zurück, einige stürzen sich aus dem Zug. Aber immer geht es weiter. Augenblick für Augenblick. Die Währung der Zeit.
Im Sommer wurde uns vom Internationalen Erd-Rotations-Service eine Sekunde geschenkt. Eine Sekunde, die uns im Zuge der Zeitmessung irgendwie verloren ging. Genauer gesagt, stimmt die tatsächlich gemessene Atomzeit nicht exakt mit der Erdrotation überein. Diese unterliegt Schwankungen, sodass es eine Diskrepanz gibt. Wann immer diese allerdings zu groß wird, nämlich 0,9 Sekunden überschreitet, erhalten wir eine „Zeitspende“.
Wir haben also eine vermeintlich zusätzliche Sekunde. Den 86.400sten Teil eines Tages, einen Augenblick. Was ist das schon, mag man sich da fragen. Ein Seufzen, ein Gedankensplitter, ein Gefühl, eine Erinnerung. Und doch benötigt das Licht nur den 299.792.458sten Teil davon, um eine Strecke von einem Meter zurückzulegen.
„Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment“, sagte Isaac Newton vor vielen Momenten.
Die Weichen der Entscheidung
Oft erst im Nachhinein scheint ein Augenblick an Bedeutung zu gewinnen. Nämlich immer dann, wenn er die Schnittstelle zu einer entscheidende Veränderung war. Verstellt man die Schienen eines Zuges um nur einen Grad, ist diese Änderung vorerst kaum erkennbar. Erst nach Kilometern zeigt sich die Konsequenz, und man erkennt rückblickend, wo es zur Kursänderung kam.
Es kann der Moment einer Entscheidung sein, die, vielleicht schon lange im Inneren gärend, nun tatsächlich stattfindet, im Kopf, in der Tat, im Wort. Nicht das „Ja“ beim Standesamt, sondern der erste zufällige Blick in der Straßenbahn, der zu einem Gespräch, das zu einem Wiedersehen, das zu einem Vermissen, das zu einem ersten Kuss führt. Nicht die Unterschrift unter dem Kaufvertrag, sondern der zufällige Spaziergang mit der Freundin, die ihren Autoschlüssel vergessen hatte, aufgrund dessen man zu Fuß gehen musste, wobei man bei dem netten kleinen Grundstück vorbei kam, stehen blieb, entzückt war,…
Es ist der unmotivierte Griff ins Sakko des Ehemannes, wo eine Telefonnummer umhüllt von einem unbekannten Frauenparfum flüchtig, wie heimlich hingekritzelt, zu lesen war. Es ist das Ja, wo vielleicht ein Nein gesagt wurde, was das gesamte Leben umgepolt hat. Es ist der erste Herzschlag aus eigener Kraft, etwa zwanzig Tage nach der Empfängnis. Entscheidende Momente, geadelt durch den Rückblick.
Der Augenblick als kleinste Einheit
Ein Moment wird auch dann zusehends relevant, wenn durch Umstände die Vergangenheit und auch die Zukunft an Bedeutung verlieren und sich soweit einander annähern, dass man unweigerlich gezwungen ist, den Zwischenraum zu suchen und dort innezuhalten.
Als meine Mutter die Diagnose bekam, dass sie an Morbus Alzheimer erkrank war, stand die Zeit zunächst still. Dann kam sie mir zu kurz vor, zu schnell. Zu schnell für meine Mutter. Als würde sie rasen und meine Mutter nicht hinterherkommen. Später begann ich dann, mit ihr gemeinsam nur mehr in einzelnen Tagen zu leben. Es gab viele gute Tage, aber gerade dann fürchtete ich mich davor, sie zu Bett zu bringen, weil ich wusste, dass am Morgen alles vergessen sein würde, alle mühsam zusammengebauten Gedankenkrücken wären in sich zusammengefallen. Aber der Tag für sich, in sich, hatte noch eine gewisse Stabilität. Bis auch die Zeit innerhalb dieses Tages immer mehr unterteilt wurde, in immer kürzere Etappen zerfiel, bis schlussendlich nur mehr eines blieb: Der Augenblick. Es war nicht mehr relevant, was sie oder ich eine Minute zuvor gesagt, getan, gegessen hatte, es zählte immer nur JETZT. Eine schrägschöne Erkenntnis.
Vor über zweitausend Jahren prägte der Dichter Horaz in einer seiner Oden den Ausspruch „Carpe diem“. Vielzitiert und vielmissbraucht, so dass er beinahe zu einer Plattitüde verkam.
„Carpe diem“, pflücke den Tag, genieße die Stunde! Allerdings ist der Tag von damals kaum noch mit unserem heutigen zu vergleichen. Wir machen in einer Stunde oft mehr Erfahrungen, als jemand in alter Zeit in seinem ganzen Leben. Einen ganzen Tag zu pflücken, ihn also bewusst zu genießen, ist für uns oft ein Ding der Unmöglichkeit, bürdet uns beinahe eine Last auf.
Du MUSST glücklich sein! Du MUSST den Tag auskosten! Unweigerlich fühlt man sich unzulänglich, als wäre man nicht genussfähig, lebensunfroh und zum Unglück verdammt, wenn es nicht gelingt, die Stunde auszukosten. Inmitten unseres Alltags, geprägt von Existenzängsten, Schicksalsschlägen und aufoktroyiertem Zeitplan geht der Moment meist unter. Beinahe unmöglich scheint es, ihn zu bändigen, ihn einzufangen.
Unser Leben – aneinandergereihte Momente
Und doch, ob wir wollen oder nicht, unser Leben ist voll davon. Der Moment einer Veränderung, ein Augenblick des Verstehens, nur eine Sekunde, die alles verändert.
Selbst, wenn wir im Zeitzug nur still dasitzen, uns am Leben sozusagen vorbeimogeln, auch dann stellt jede Sekunde eine neue Weiche, nicht nur durch die Dinge, die geschehen, sondern auch durch das, was NICHT geschieht.
Den Blick, den ich NICHT über die Schulter geworfen habe, als hinter mir ein Lastwagen zu knapp heranfuhr und ich NICHT ausweichen konnte. Das Wort des Verzeihens, das ich NICHT gesprochen habe, den Kuss, den ich NICHT gegeben habe, die Türe, die ich NICHT hinter mir zugeschlagen habe, das Bügeleisen, das ich NICHT abgeschaltet habe, den Urlaub den ich doch NICHT gebucht habe. Viele „Nicht“, deren Konsequenz wir niemals erfahren werden, weil sie ja NICHT geschahen.
Leider (oder glücklicherweise) sind unsere Momente immer eingebettet. In ein Davor und ein Danach. Der erste Urlaubstag ist immer genussvoller als der letzte. Sonntag wäre schöner ohne Montag. Ein Kuss im Moment des Wiedersehens schmeckt süßer als beim Abschied. Weich und kuschelig fühlt es sich an, wenn die Ahnung des Zukünftigen auch Schönes in sich birgt. Wenn aber Bedrückendes vor uns liegt, in der nächsten Stunde, morgen, nächste Woche, bekommt auch die Gegenwart einen Seufzer aufgedrückt.
Die Momente unseres Lebens – manchmal aneinandergereiht wie unförmige Perlen, holprig, nicht zueinander passend, und dann wieder eine große Einheit, ein großes Ganzes, ergebend, vom ersten bis zum letzen Herzschlag und dem Pochen dazwischen, das uns von Augenblick zu Augenblick getragen hat.
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