Aspro, Voltaren, Parkemed, Alkohol, Marihuana, Morphiumderivate. Jedes dieser Mittel wird abhängig vom jeweiligen kulturellen, sozialen und ökonomischen Hintergrund gerne in selbstdosierten Mengen als Schmerzmittel verwendet. Also zumindest theoretisch. Natürlich nicht, wenn Sie ein Mann sind. Dann haben Sie so etwas selbstverständlich nicht notwendig. Wer stets dazu bereit ist, sich die Kugel, die einem gerade einen komplizierten Splitterbruch in der Schulter zugefügt hat, mit einem rostigen, bakterienverseuchten Eisensplitter aus dem Fleisch zu schaben, ohne auch nur die Mundwinkel zu verziehen, würde nie auf den Gedanken kommen, sich wegen einem läppischen Migräneanfall pharmazeutisch wirksame Substanzen zuzuführen.
Ich selbst fühle mich diesem Ehrenkodex klarerweise verpflichtet. Das ist am Stammtisch oder auch beim Bürokaffee eine feine Sache, hat aber merklich Nachteile, wenn man tatsächlich Schmerzen hat. Davon konnte ich mich vor Kurzem überzeugen, als ich ziemlich plötzlich, ohne bemerkbaren äußeren Anlass sehr intensive Ohrenschmerzen bekam. Nun kann drastische körperliche Pein leider dazu führen, dass das Gehirn nur halbe Arbeit leistet, was in meinem Fall dazu führte, dass ich meine Frau von meinen Beschwerden in Kenntnis setzte und somit ihre Aufmerksamkeit erregte. Meine Frau riet mir unverzüglich zur Einnahme einer nicht zu knappen Portion Voltaren und einem möglichst rasch zu terminisierenden Arztbesuch. Aus oben erwähnten Gründen war an den öffentlichen Einsatz von nicht steridoalen Anti-Rheumatika nicht zu denken, und über einen Hausarzt den ich konsultieren könnte, verfüge ich, wie Sie vielleicht wissen (Der Arztbesuch), momentan nicht.
Kurz gesagt tat ich daher das, was alle Männer in meiner Lage tun würden, ich nahm mein Voltaren heimlich im Bad. Ein Teilerfolg stellte sich auf diese Weise auch schnell ein. Die Schmerzen nahmen ab und ich verbrachte weite Teile des Tages mit meiner Arbeit. Bis sich der Schmerz rechtzeitig, kurz nach Schließen jeder öffentlich zugänglichen medizinischen Einrichtung, wieder meldete. Damit er nicht abermals in Vergessenheit geriet, brachte er diesmal noch wesentlich mehr Wumms mit.
Auf dem Heimweg fuhr ich deswegen noch rasch bei einer Apotheke vorbei, um mein Leiden einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Schmerz-Bundes-Bruder, einem Pharmazeuten, vorzutragen. Unglücklicherweise waren aber nur Apothekerinnen zugegen, wodurch ich gezwungen war, die Beschreibung meiner fast unerträglichen Beschwerden auf das zart besaitete Auditorium abzustimmen.
„Guten Tag. Normalerweise würde ich ja nicht in einer Apotheke deswegen vorstellig werden. Aber es ist so: In meinem rechten Ohr fühlt es sich seit heute Morgen in etwa so an, als würde ein Schwarm ausgehungerter Piranhas ein Barbecue veranstalten, zu dem mein Gehörgang als Grillgut geladen ist. Was kann ich dagegen tun?“
„Nun, haben Sie denn schon ein Schmerzmittel genommen?“
„Wie meinen Sie das? Ich brauche etwas zur Behandlung und nichts gegen die Symptome!“ Ich fragte mich, ob man meine illegalen Einnahme von Voltaren in meinen Augen sehen konnte.
„Na ja wissen Sie, das ist schwer. Wenn wir nicht genau wissen, woher die Schmerzen kommen, können wir kaum eine vernünftige Therapie planen. Und wenn es eine Mittelohrentzündung ist, dann sollten Sie das unbedingt untersuchen lassen. Ich würde Ihnen daher empfehlen, für heute Abend einmal etwas gegen die Schmerzen zu nehmen und morgen einen Arzt aufzusuchen.“
Wie es schien, hätte meine Frau durchaus das Zeug zur Pharmazeutin gehabt. Allerdings hatte mir dieser Ratschlag auch schon am Vormittag nur sehr begrenzt weitergeholfen. Mit hängendem Kopf und pochendem Ohr machte ich mich daran, die Apotheke zu verlassen.
„Hier, nehmen Sie zumindest diesen Folder mit. Der Ärztenotdienst ist jetzt neu organisiert. Mit Fachärzten auch in der Nacht. Dort kann man Ihnen helfen, falls es nicht besser wird“, rief mir die besorgte Apothekerin nach.
Zuhause angekommen, verschwand ich im Bad und nahm erstmal zwei weitere Voltaren und spülte dann im Wohnzimmer mit einem Bier nach. Meine Frau bemerkte mein schmerzverzerrtes Gesicht und fragte sofort nach, wie es meinem Ohr ginge. Ich antwortete, dass es bereits viel besser sei und ich wieder einmal bewiesen hatte, dass die männliche Willenskraft über jegliches Erzeugnis eines Pharmakonzerns erhaben ist.
Da meine Schmerzen nur wenig nachließen, mein eiserner Wille aber munter vor sich hin oxidierte, ging ich früh zu Bett. Um zwei Uhr morgens erwachte ich jäh, als mir die foltergleiche Qual in meinem Ohr eine Amputation als lohnende Alternative erscheinen ließ. In mir machte sich die Gewissheit breit, dass es Zeit für einen Arzt war und dafür, meine Frau zumindest von Teilen der Wahrheit in Kenntnis zu setzen und das klassisch maskuline Mann-aus-Stahl-Image vorerst ruhend zu stellen. Schließlich brauchte ich einen Chauffeur. Ich drehte mich zu ihr, um sie vorsichtig darauf vorzubereiten, dass ihr Weltbild gleich schwer erschüttert werden würde. Und da sah ich es: Diese falsche Schlange, die Treue in guten wie auch schlechten Zeiten geschworen hatte, verschlief seelenruhig meinen nahe bevorstehenden Heldentod und stand mir freiwillig überhaupt nicht bei.
Meine Priorität galt nun der Aufgabe, die elende Deserteurin wach zu bekommen. Direkt aufwecken konnte ich sie aber nicht, wollte ich mein Image doch nur ruhend stellen und nicht gleich zerbröseln. Soweit es die Schmerzen erlaubten, ließ ich meiner Kreativität freien Lauf. Ich seufzte laut, knarrte mit dem Bett, schaltete das Licht ein und achtete darauf, dass versehentlich mein Buch vom Nachttisch fiel. Nichts davon hatte Erfolg. Erst als ich mich selbst mit dem Mobiltelefon meiner Frau anrief, erwachte diese egoistische Hexe und fragte mit unschuldigen, verschlafenen Augen, was denn los sei.
„Ich weiß auch nicht. Auf einmal hat mein Telefon geklingelt. Aber dann war niemand dran. Seltsam. Obwohl es ist ganz gut, dass Du auf bist. Meine Ohrenschmerzen werden immer schlimmer. Wahrscheinlich sollte ich zum Notarzt fahren und das anschauen lassen. Nur um zu wissen, was ich eigentlich habe.“
„Das ist sicher eine gute Idee. Je schneller wir wissen was los ist, desto…“
„Stimmt! Normalerweise würde ich ja gleich selbst fahren, aber ich fühle mich nicht wirklich in der Lage, ein Auto zu steuern. Vielleicht hab ich ja was am Gleichgewichtsorgan…“, rief ich dazwischen.
„Ja sicher, warte ich zieh mich nur kurz an, dann können wir los.“
Fünf Minuten später saßen wir im Auto, und ich vergaß einen Teil der Schmerzen wegen der Gewissheit, dass die ganze Aufmerksamkeit meiner Frau nun wieder mir galt. Der Stützpunkt des Ärztenotdienstes machte tatsächlich einiges her. Ein großes, renoviertes Haus, ein Eingang mit Milchglastüren in gleißendes Licht getaucht. Zwei Rettungsfahrzeuge in der Auffahrt. Ganz klar, hier konnte man mir helfen!
Das erste was mir dann an der Milchglastür auffiel war, dass sie verschlossen war. Ich schluckte und wollte bereits in Panik ausbrechen, als meine Frau die Klingel an der Gegensprechanlage betätigte. Mein Puls senkte sich wieder und wir warteten. Und dann warteten wir noch ein bisschen. Nach einer weiteren Einheit Warten riss meiner Frau der Geduldsfaden und sie läutete erneut. Kurz darauf meldete sich eine mehr als verschlafene Frauenstimme.
„Ja, was gibt’s?“ Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Um sicher zu gehen, überprüfte ich nochmals, ob wir auch wirklich beim Ärztenotdienst geläutet hatten. Wir hatten. Was antwortet man einem der diensthabenden Ärzte, wenn man um halb drei Uhr morgens beim Notdienst läutet und gefragt wird, was es gibt?
„Ähm ja, also ich denke, ich bin gewissermaßen ein Notfall. Ich habe starke Ohrenschmerzen und möchte das gerne ansehen lassen.“
„Aha, ja und?“
„Das ist doch der Ärztenotdienst. Und ich brauche einen Arzt. Und es ist ein Notfall. Daher dachte ich, Sie könnten eventuell…“
„Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich wie spät es ist?“ Im Prinzip hatte die Frau recht. Wir standen unangemeldet, mitten in der Nacht vor ihrer Tür und hatten sie aus dem wohlverdienten Schlaf gerissen. Um meine Chancen auf eine Behandlung nicht vollends zu verspielen, entschuldigte ich mich sehr höflich und erkundigte mich, ob sie oder einer ihrer Kollegen, von denen die Apothekerin am Abend zuvor gesprochen hatte, sich mein Ohr doch ansehen könnte.
„Was für Kollegen? Das hier ist kein Krankenhaus. Aber gut, warten Sie, ich mache Ihnen auf.“
Meine Frau und ich traten ein und warteten weitere drei Minuten verloren in einem großen dunklen Warteraum. Dann öffnete sich am Ende des Flurs eine Tür und eine etwa 223 Jahre alte Frau, deren Geschlecht sich nicht mit Sicherheit bestimmen ließ, stapfte uns mit einer Arzttasche entgegen, die den Eindruck machte, sie hätte dereinst noch dem ehrwürdigen Paracelsus gehört.
Lesen Sie den zweiten packenden Teil dieser Geschichte ab 08. November, 07:00 Uhr.
Bookmarken & Teilen
[…] Was bisher geschah: Von Ärzten, Schmerzen, Androgynia und ganzen Kerlen – Teil 1 […]