Gestern Morgen habe ich offensichtlich einen Straßenbahnschaffner zutiefst beleidigt. Und zwar mit folgenden Worten:
„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir sagen, wann Sie ungefähr abfahren? Die digitale Anzeige draußen scheint kaputt zu sein. Das wäre wirklich sehr nett. Vielen, vielen Dank.“
Darauf er, ohne Zeitverzögerung: „Ja, ja, ich geb ja schon Gas, ich braus ja schon ab, ich bin ja schon weg!!!“
Ich war perplex, und ich muss zugeben, auch etwas pikiert ob seiner Schroffheit. Gerade morgens dringen solche Töne praktisch ungefiltert in meinen Magen und fangen dort zu grummeln an.
Nach der Arbeit, beim „After Business Bier“ mit meinem Kollegen, erwähnte ich die Begebenheit und hoffte auf Anteilnahme und reges Mitschimpfen. Er jedoch bat mich, das ganze doch einmal von einem anderen Gesichtspunkt aus zu sehen und vielleicht etwas mehr Verständnis zu zeigen.
„Schau“, begann er, „wer weiß, was dem in den Stunden davor wiederfahren ist. Stell dir folgendes Szenario vor:
„Dein Straßenbahnschaffner, nennen wir ihn der Einfachheit halber Herbert, kommt gestern nach der Arbeit völlig geschlaucht nach Hause. Alles was er sich jetzt wünscht ist ein kaltes Bier. Aber als er den Kühlschrank öffnet, findet er nur Reste vom Chinesen, ein rohes Ei und ein vertrocknetes Stück Speck. Frustriert wirft er sich auf die Couch. Kurz überlegt er, ins Gasthaus an der Ecke zu gehen, allerdings müsste er dann seine gemütlich ausgebeulte Jogginghose wieder gegen eine Jeans tauschen. Das ist ihm zu blöd. Außerdem ruft ja vielleicht Elfie an, dann will er Ruhe haben. Elfie ist seine….Freundin? Seine Flamme? Sein Mädchen? Na ja, auf jeden Fall steht er auf sie. Er hat sie in einer Bäckerei kennengelernt. Beide bestellten immer die gleiche Sorte Nusskuchen. Und jetzt haben sie sich schon einige Male unverbindlich verabredet und telefonieren von Zeit zu Zeit. Herbert will sie nicht bedrängen und blieb bisher zurückhaltend.
Also kein Bier. Herbert macht sich stattdessen eine Kanne schwarzen Kaffee und setzt sich vor den Fernseher. Es ist schon nach acht und kein Anruf von Elfie. Herbert ärgert sich. Was macht sie denn mitten in der Woche? Warum ruft sie nicht an?
Um halb neun läutet Herberts Handy. Ein alter Kumpel ist dran, nennen wir ihn Spider. Spider ist wie immer hochansteckend motiviert und möchte mit Herbert einen heben gehen. Zwar hat Herbert keine rechte Lust mehr, aber der Kaffee lässt ihn jetzt ohnehin nicht schlafen, und vielleicht ruft Elfie ja doch noch an, dann hört sie wenigsten aus den Hintergrundgeräuschen, dass er nicht zu Hause sitzt und auf ihren Anruf wartet, sondern auch ohne sie Spaß haben kann, wenn auch nur mit Spider. Herbert zieht sich also wieder an und trifft sich mit Spider in einem absoluten Inlokal, wie es sein Freund formuliert hat. Dort suchen sie sich einen Tisch mit Sicht auf alles. Alles meint, von wo aus Spider die Damen beobachten kann. Spider ist cool, Spider ist kess, Spider wartet nie auf Frauenanrufe. Das angenehme an ihm ist, dass man sich einfach von seinen Erzählungen berieseln lassen kann. Hin und wieder ein Nicken oder Kopfschütteln genügt, während man gleichzeitig das ganze Ambiente inspizieren kann. Herberts Blick streift die Theke und bleibt an einem Hinterkopf hängen. Das Haupthaar kennt er. Er erstarrt. Das wiederum bemerkt Spider sofort und folgt Herberts Blick.
‚Wen schaust du an? Etwa die Schnalle mit dem blonden Schopf?‘ Herbert wird rot, was nur er spürt und keiner sieht. ‚Nein, also, na ja, ähm…. ‘
Da springt Spider schon auf, quetscht sich zur Bar und kommt mit einer mittelgroßen Blondine zurück. Es ist Elfie. Diese ist hocherfreut und lässt sich gerne auf ein Getränk einladen. Herbert ist sofort entspannt, was für eine glückliche Fügung. Außerdem scheint Elfie schon ein wenig angeheitert zu sein und wirkt dadurch weniger distanziert. Sie lacht viel, sucht wie zufällig Körperkontakt, hört interessiert zu und ist überhaupt recht gelöst. Bis Herbert erkennt, dass sie nicht IHM zuhört, nicht über SEINE Witze lacht, nicht SEINEN Arm die ganze Zeit tätschelt, sondern dass es Spider ist, an dessen Lippen sie hängt, jetzt noch im übertragenen Sinne, aber bald vielleicht…? Herbert wird noch stiller, er kommt sich belämmert vor. Am liebsten möchte er gehen. Er schlägt vor, gemeinsam ein Taxi zu nehmen. Jovial drückt ihm Spider mit einem Augenzwinkern zehn Euro in die Hand. ‚Geh nur, ich bring die Dame dann nach Hause. ‘
Herbert verabschiedet sich, lässt aber das Geld liegen.
Was für ein Reinfall! Zu Hause angekommen, hadert er mit sich. Dieser Idiot Spider! Spannt ihm einfach seine…Freundin aus. Andererseits hat Herbert nichts davon erwähnt. Spider konnte das nicht wissen. Und Elfie? Sie waren ja nur einige Male ausgegangen, das waren keine Dates. Für sie war Herbert sicher viel zu zurückhaltend gewesen.
Das hatte er sich alles selbst zuzuschreiben. Er musste mehr aus sich herausgehen, hätte bei Elfie viel offensiver und bei Spider viel definitiver sein müssen. Mit diesen verwirrenden Gedanken legt er sich ins Bett. Leider kann er nicht einschlafen, weil er auch in der absoluten Inbar noch einen Espresso getrunken hat. Er wälzt sich stundenlang, und als morgens der Wecker klingelt, meint er, kein Auge zugetan zu haben. So fühlt er sich auch. Ausgekotzt, mickrig, lahm. Das ändert sich auch nicht, als er danach zuerst Elfie anruft, um den neuen Herbert zu präsentieren. Die hat ihr Handy nämlich ausgeschaltet, was noch nie der Fall war. Dann wählt er Spiders Nummer. Auch ausgeschaltet. Dieser Schuft, der coole, kesse Spider!
Herbert ärgert sich so sehr und so lange, dass er die Zeit übersieht, daher keinen obligaten Kaffee mehr trinken und sich auch kein Frühstücksbrot mehr streichen kann.
Herbert schlüpft in seine Straßenbahnkluft und hetzt zur Arbeit. Und so sitzt er nun bei der Endstation, unausgeschlafen, ohne Koffein im Blut, mit leerem Magen, und sinniert über Elfie, Spider und sein patschertes Leben. Und dann kommst auch noch DU und sprichst ihn freundlich an. Aber er versteht nur: ‚Hey du lahmer Trottel, fahr los! ‘
Und so hat sich das wohl ergeben!“
Ich war paff, fix und alle. „Wahnsinn! Wie kommst du nur auf so eine Geschichte?“, fragte ich ihn beeindruckt.
„Tja“, sagte er verhalten, „dieser Spider, der bin ich!“
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