Meine Frau ist niemand, der leichtfertig einen Arztbesuch riskieren würde. Das liegt einerseits daran, dass sie sich, wie jeder gewissenhafte Bürger, ihrer Verantwortung als Humankapital bewusst ist und daher alles daran setzt, die vielen hunderten Konten von Vater Staat nicht ungebührlich zu schröpfen. Andererseits liegt es noch ein klein bisschen mehr daran, dass sie Arzttermine nicht leiden kann. Wenn nicht gerade eine veritable Lungenentzündung oder wenigstens eine abgetrennte Gliedmaße vorliegt, verweigert sie das Aufsuchen unseres Hausarztes beharrlich.
Das bereitet mir ziemliche Problem, weil wir unseren Hausarzt privat sehr gerne mögen, ihn aber wegen der militanten Abneigung meiner Frau gegen die Institution Arztpraxis, schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Natürlich könnte man ihn theoretisch zuhause besuchen. Allerdings betreibt er seine Praxis gleich neben dem Haus, in dem er wohnt und meine Frau sieht den Mindestabstand, den es zur Praxis einzuhalten gibt, nicht gewährleistet, wenn wir auf seiner Terrasse sitzen. Sie hat sogar einmal versucht, eine einstweilige Verfügung gegen die Praxis zu erwirken, damit ihr diese nicht näher als drei Wohnblocks kommen darf. Da Harald, unser Hausarzt, ein langjähriger Freund ist und meine Frau sehr schätzt, ist durch diese Sache auch seine Beziehung zu seiner Praxis deutlich abgekühlt.
Trotz dieser Schwierigkeiten bemühen wir uns den Kontakt zu Harald so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Wir schicken ihm regelmäßig Ansichtskarten aus dem Urlaub. Heimlich lasse ich ihm meist auch einen Führer durch die schönsten ausländischen Arztpraxen zukommen. Letztes Jahr haben wir ihm ein Billet zum zehnjährigen Bestehen seiner Privatpraxis geschickt. Eigentlich sollte es ein Glückwunsch-Schreiben werden, meine Frau bestand jedoch darauf, ihm aufrichtig zu kondolieren.
Vor kurzem stellte sich dann aber eine glückliche Fügung des Schicksals ein. Meine Frau wurde krank. Das mag unbarmherzig klingen, war aber schließlich die Minimalvoraussetzung dafür, unseren Freund Harald wieder einmal live zu sehen. Es schien von Anfang an nichts Ernstes zu sein, aber zumindest war meine Frau soweit angeschlagen, dass sie nach achtstündigem Zureden meinerseits schließlich doch missmutig einwilligte, unseren Hausarzt aufzusuchen. Selbstverständlich versicherte ich sie meiner vollen Unterstützung und begleitete sie in die Praxis.
Wer schon einmal völlig gesund im Wartezimmer einer solchen Arztpraxis gesessen hat, weiß, dass das wahrlich kein Vergnügen darstellt. Ist man krank, hat man wenigstens die Möglichkeit, sich auf sich selbst zu konzentrieren, sich zu bemitleiden, sich schlecht zu fühlen, rechtschaffen übelgelaunt zu sein. Ist man aber gesund, fallen einem die vielen fahlen Gesichter auf, und man kann die gierigen Bakterien und Viren, die ihnen aus den Poren triefen, plötzlich mit freiem Auge erkennen.
Das einzige, was meine Aufmerksamkeit wieder davon ablenken konnte, war die Predigt meiner Frau über die Sinnlosigkeit unseres Vorstelligwerdens bei Harald.
„Hast Du mitbekommen, wie unfreundlich die Sprechstundenhilfe gewesen ist? Und diese langen Wartezeiten! Man geduldet sich zwei Stunden, damit man fünf Minuten untersucht wird und dann ein Rezept bekommt, auf dem Medikamente stehen, die man sich in der Apotheke sowieso besorgt hätte. Wozu sind wir dann hier?“
Ich war eindeutig zu feige, um die Wahrheit zu sagen: Weil wir Harald schon ewig nicht mehr gesehen haben. Notfalls würde ich für fünf Minuten auch den ganzen Tag warten. Und weil er dir Aspirin verschreiben wird. Also antwortete ich: „Damit wir erfahren, was dir fehlt. Und Harald ist ein guter Arzt, der nimmt sich immer lang genug Zeit.“
Es war keine sonderliche Überraschung, dass der untrügliche Spürsinn meiner Frau, meine wahren Motive durchschaute. Überraschend war jedoch die Strafe, die sie deshalb verhängte. Ich durfte nicht mit ihr ins Untersuchungszimmer, als sie an der Reihe war. Das einzige was mir blieb war, jedes Mal, wenn die Tür aufging, meinem Freund Harald ein Wort zu zuwerfen: „Hallo … Harald … schön … Dich … fast … gesehen … zu … haben.“
Nachdem meine Frau im Untersuchungszimmer verschwunden war, begann ich mich wieder auf die anderen Patienten zu konzentrieren. Mir fiel auf, dass die meisten von ihnen perfekt vorbereitet schienen. Man hatte Aktentaschen oder auch ganze Ordner mit Befunden dabei. In einer Ecke, in der zur Dekoration eine alte Apothekerwaage stand, fand bereits ein Wettwiegen über die, im wahrsten Sinne des Wortes, schwerwiegendste Krankengeschichte statt.
Allgemein plauderte man recht ausgelassen über die eigenen Krankheiten und übertrumpfte sich gegenseitig nicht ohne Stolz mit komplexen Leiden und Fällen, die medizinhistorisch wohl einzigartig waren. Ich bekam zunehmend ein schlechtes Gewissen, weil ich weder einen feinsäuberlich sortierten Krankenakt noch einen beneidenswert seltenen Morbus Sensationicus vorzuweisen hatte. So dauerte es auch nicht lange, bis man mir eindeutig argwöhnte. Ganz offensichtlich verströmte ich einen ganz widerlich gesunden Geruch, der auf die die Meute der Krankheitserreger-Wirte dieselbe Wirkung hatte wie Knoblauch auf Vampire.
Um gegenzusteuern und um mein Gewissen zu beruhigen tat ich, was ein Mann tun muss. Ich redete mir schuldbewusst unerträgliche Kopfschmerzen ein, die sich unter den abfälligen Blicken der anderen alsbald tatsächlich einstellten. Tatsächlich nahmen sie mit großer Eile derart stark zu, dass ich mich nach wenigen Minuten schreiend am Boden wälzen musste und die anderen Patienten anschrie, doch endlich still zu sein, weil ich diesen monströsen Lärm nicht länger ertragen würde.
Es folgte frenetischer Applaus und Jubelschreie. Man klopfte mir auf die Schulter und hieß mich im Kreise der wirklich Kranken herzlich willkommen. Mein linker Nachbar wies darauf hin, dass er von einem ähnlichen Fall von Kopfschmerz erst vor kurzem in einer Fachzeitschrift gelesen hatte und ich mich glücklich schätzen konnte, an einem so seltenen, medizinisch äußerst interessanten Krankheitsbild zu leiden. Wenn ich Glück hätte, könnte es im Idealfall sogar unheilbar sein. Ein anderer ließ seinen Hut herumgehen und sammelte von jedem der Patienten einen alten Befund für mich ein, wodurch ich in kürzester Zeit mit einem ansehnlichen Krankenakt ausgestattet war. Teilweise zwar widersprüchlich, auf der Apothekerwaage aber ein echter Gewinner.
Lange bevor ich meinen neugewonnen Freundeskreis richtig auskosten konnte, kam meine Frau aus dem Untersuchungszimmer zurück. Sie schien bester Laune zu sein und teilte mir mit, dass sie Grippe habe. Freudig zeigte sie mir das Rezept, das sie erhalten hatte und wies darauf hin, dass sich darauf neben Aspirin auch „echte“ Medikamente befänden. Außerdem hatte sich Harald so viel Zeit für sie genommen und ausführlich mit ihr über die Krankheit, den Urlaub und das mögliche Fallenlassen der einstweiligen Verfügung gesprochen. Meine Frau erklärte, dass sie nun keine Angst mehr vor der Praxis hatte und wir uns von nun an gerne wieder öfters mit Harald treffen konnten.
Ich war begeistert! Was für ein herrlicher Tag! Das Aufleben einer alten Freundschaft, ein Wartezimmer voller neuer, inniger Freundschaften, eine fast geheilte Frau und eine völlig neue eingebildete Krankheit mit Kultstatus.
Und dann, im Moment größter Begeisterung, stand Harald vor mir und sagte in voller Lautstärke: „Schön dich endlich mal wieder zu sehen! Mann, das ist echt lange her. Aber gut siehst du aus. Kerngesund mit einem Immunsystem, dem nicht mal panzerbrechende Raketen etwas anhaben könnten. Na ja, das war ja schon immer so. Du warst schon von Kindesbeinen an nie krank. Ach ich bin wirklich froh, dass wir uns jetzt wieder öfter sehen können.“
Von wegen! Wie konnte er nur so etwas tun? Er hatte mich vor meinen Männern bis auf die Knochen blamiert. Gerade war ich noch der gefeierte Held gewesen und jetzt drehte man sich verächtlich von mir weg, wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Selbst meine karitativ erstellte Krankenakte nahm man mir wieder ab und ich wurde unehrenhaft aus dem Corps des aufrechten Siechtums entlassen.
Egal wie meine Frau das sieht, soviel Peinlichkeit kann ich nicht ertragen. Nie wieder werde ich auch nur einen Fuß in Haralds Praxis setzen. Egal, ob er noch an mir hängt oder abgetrennt ist. Ich werde mich in Zukunft fern von ihm und seinem Kurpfuscherdomizil halten. Letzte Woche habe ich daher eine einstweilige Verfügung beantragt.
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Oh wie wahr! Mehr kann man dazu eigentlich gar nicht sagen. Da überwindet man sich zum Besuch einer der wohl unangenehmsten Institutionen, wo ja schon der Gedanke daran ein recht unterkühltes Schaudern über den Rücken zulässt, und dann wird man dort auch noch, so als völlig neutral Unbedarfter, von Kränkelnden gemoppt. In beide Richtungen, an dich liebe kränkelnde Schreibselbraut, die du da unverdienterweise leiden musstest, und auch an dich lieber Maximus, der da aufgrund rechtlicher Einschnitte so lange von einem freundschaftlichen Treffen fern gehalten wurde, entsende ich meine aufrichtige Anteilnahme!
Ich mein, nichts gegen Ärzte und deren Bestreben um unser aller Wohl, aber sie haben halt leider keinen leichten Stand. Die Frage die sich da mitten aus dem Wartezimmer erhebt: Wer oder was hat Schuld an dieser Misere?
Meinereiner gehört ja auch eher zu Gattung ‚Arztbesuchsverweigerer‘, und überlegt ebenso, bis hin zum Moment wo die Türschnalle der äußersten Tür zur Ordination gedrückt werden soll, ob ein solcher Besuch überhaupt zu rechtfertigen ist. Schließlich haben sich ja meist, wie Maximus wieder einmal mehr bestätigte, in den inneren Kammern dieser Höhle des Krankheitsgrauens, schon unzählige Krankengeschichtenaustauscher versammelt, die nur so gierig darauf warten ihre unglaublichen Fälle an den Neuankömmling zu bringen. Desweiteren will man einem äußerst gut besuchten Dottore nicht unnötig mit banalem die Zeit rauben. Ich mein, wie oft kann man schon aufwarten mit einem ‚house’schen‘ Krankheitsbild, welches alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt? … Selbstverständlich mit der Aussicht auf 100%ige Genesung; man will ja darüber berichten können und in den Kreis der Warteraumhorroristen aufgenommen werden.
Vielleicht lässt sich dieser schwere Stand aber auch auf ihre unsäglich gemeine Art zurückführen, mit der sie uns bereits als kleine Kinder gequält haben. Ja quälen mussten – laut Aussagen anwesender Zeugen! Fängt doch alles bereits damit an, dass der Moment, nach dem Erhaschen der ersten Strahlen einer sonnengleich hellen Lichtquelle nicht damit endet, dass man sich entspannt in einen Liegestuhl legen darf, um diese neue völlig fremde Umgebung langsam in sich aufnehmen zu können. Nein – es beginnt mit einem Klaps auf den Allerwertesten! Und dann versteckt dieser Feigling auch noch sein Gesicht hinter einer Maske, was spätere Täterbeschreibungen gänzlich unmöglich macht.
Aber nicht genug davon, schlendert man mit einem unschuldig gutgläubigen Lächeln, wohlbehütet in den Armen seiner Mami ein paar Tage später das erste Mal in die Praxis seines zuständigen Kinderarztes … Verzeihung – KinderärztIn, und dank dem George und seinem Einsatz bei ER sind sie alle so lieb und nett, und bekommt dann prompt die Rechnung für seine frühkindliche Naivität präsentiert. Picks, Picks und noch einmal Picks! Ohne Rücksicht auf Verluste wird da zugestochen! Da nützten auch die großen blauen Glupschaugen der blonden gut aussehenden Ordinationshilfe nicht, die einen als süßestes Baby aller Zeiten tituliert. Nö, nein, nada! Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben sie verspielt! … Und dabei wollen sie doch eigentlich nur unser bestes.
Tja, vielleicht trägt dies jetzt auch nicht unmittelbar zur Aufklärung des Tatbestandes bei, warum ÄrztInnenbesuche mit einem permanent unguten Gefühl in der Magengegend verbunden sind, aber es könnte das Ganze weiter eingrenzen.
In diesem Sinne – mögen euch, liebe Schreibselbraut und lieber Maximus, die Ordinationsbesuche wieder länger erspart bleiben!
Es grüßt mit einem kräftigen Hatschiiii
Euer MSBBV
[…] zu denken, über einen Hausarzt den ich konsultieren könnte, verfüge ich, wie Sie vielleicht wissen (Der Arztbesuch), momentan […]